Ein fast normaler Wahnsinn
Ein toller Artikel zu diesem Thema, gefunden auf www.standard.at
Ein fast normaler Wahnsinn
Fall Kampusch: Es geht darum, notfalls einen misstrauischen Blick zu viel als einen zu wenig zu machen
Die Reaktionen der vom TV befragten Vox Populi aus der ehemaligen Wohnsiedlung von Natascha K. und dem Ort ihrer Gefangenschaft reichen von „A Wahnsinn!“ bis „Wie kann des sein?“
Es kann sehr leicht sein, es kommt öfter vor als man glaubt – wenn auch nicht in dieser extremen Form – und es ist zwar eine Art von Wahnsinn, aber einer, der in seinen Vorstufen und „milderen“ Formen beinahe täglich vorkommt und manchmal, aber bei weitem nicht immer, in eine Straftat mündet.
Das ist der Grund, warum Qualitätsmedien wie der STANDARD über solche „Sensationsgeschichten“ berichten müssen. Es geht darum, ein psychopathisches Phänomen, das in der Gesellschaft in verschiedenen Formen vorkommt, in einen Bezugsrahmen zu setzen, seine Bedeutung zu analysieren und die bessere rechtzeitige Erkennung zu ermöglichen.
Der Entführer von Natascha K. hat offenbar an einer extremen Beziehungsunfähigkeit, gepaart mit einem extremen Kontrollwahn, gelitten. Es sei dahingestellt, ob es tatsächlich zu einem sexuellen Missbrauch gekommen ist – trotz des öffentlichen Herumspekulierens der jungen Polizistin, mit der die Gerettete als Erste ausführlicher gesprochen hat. Übrigens: Wer das in der Polizeihierarchie zugelassen oder vielleicht sogar aktiv gefördert hat, gehört sofort suspendiert.
Jedenfalls wurde dieses junge Mädchen jahrelanger intensivster Gewalt ausgesetzt, psychisch und physisch, letzteres zumindest durch Entführung und Einsperren in ein unterirdisches Verlies. Was daran schockiert ist die Dauer, die unmittelbare Nähe zum Alltag einer biederen Gartensiedlung in der Umgebung einer Großstadt und die Planung, die zugleich von einer ungeheuren kriminellen Energie und einer beinahe banalen Bastlermentalität zeugt.
Es liegt ein Fall von extremer Ausprägung vor, aber das Grundsätzliche könnten wir, wenn wir es nur wollten, beinahe jeden Tag bemerken: Junge Mädchen und Frauen, die unter dem Terror eines Partners, eines gegenwärtigen oder ehemaligen, oder eines dominanten Familienpatriarchen stehen; Kinder, die ähnlich unter der Gewalt eines (seltener: einer) Kontrollwahnsinnigen leiden, bis in den Tod. Alle paar Monate liest man von Kindern, die der Vater und die Mutter mit in den Tod nahm, damit sie der andere nicht bekommt; oder von jungen Menschen (meist: Frauen), denen eine archaische Familienmoral ein selbstbestimmtes Leben verbieten will, manchmal bei Todesstrafe.
Selbstverständlich besteht der Unterschied darin, dass der Entführer Nataschas - wie andere Täter - ein fremdes Kind in seine Gewalt brachte. Aber der psychopathische Wille, ein anderes Leben vollkommen zu dominieren, ist derselbe.
Ein Psychotherapeut, der für den Verein „Die Möve“ tätig ist, hat das scheinbar Offenkundige gesagt: Es ist notwendig, auch die Kinder für mögliche Gefahren zu sensibilisieren. Aber auch Zivilcourage seitens der Bevölkerung sei gefragt. Immer mehr Menschen würden heutzutage wegschauen. Bei den Nachbarn des mutmaßlichen Entführers von Natascha könnte sich jetzt ein schlechtes Gewissen einstellen, weil man seit acht Jahren nichts bemerkt haben will.
Das alles hat mit dem „Sexbestie!“-Geschrei, das jetzt anhebt, nichts zu tun. Es geht darum, für den fast normalen Wahnsinn unseres Alltags sensibler zu werden und notfalls einen misstrauischen Blick zu viel als einen zu wenig zu machen. (Hans Rauscher, DER STANDARD, Printausgabe, 26./27.8.2005
Ein fast normaler Wahnsinn
Fall Kampusch: Es geht darum, notfalls einen misstrauischen Blick zu viel als einen zu wenig zu machen
Die Reaktionen der vom TV befragten Vox Populi aus der ehemaligen Wohnsiedlung von Natascha K. und dem Ort ihrer Gefangenschaft reichen von „A Wahnsinn!“ bis „Wie kann des sein?“
Es kann sehr leicht sein, es kommt öfter vor als man glaubt – wenn auch nicht in dieser extremen Form – und es ist zwar eine Art von Wahnsinn, aber einer, der in seinen Vorstufen und „milderen“ Formen beinahe täglich vorkommt und manchmal, aber bei weitem nicht immer, in eine Straftat mündet.
Das ist der Grund, warum Qualitätsmedien wie der STANDARD über solche „Sensationsgeschichten“ berichten müssen. Es geht darum, ein psychopathisches Phänomen, das in der Gesellschaft in verschiedenen Formen vorkommt, in einen Bezugsrahmen zu setzen, seine Bedeutung zu analysieren und die bessere rechtzeitige Erkennung zu ermöglichen.
Der Entführer von Natascha K. hat offenbar an einer extremen Beziehungsunfähigkeit, gepaart mit einem extremen Kontrollwahn, gelitten. Es sei dahingestellt, ob es tatsächlich zu einem sexuellen Missbrauch gekommen ist – trotz des öffentlichen Herumspekulierens der jungen Polizistin, mit der die Gerettete als Erste ausführlicher gesprochen hat. Übrigens: Wer das in der Polizeihierarchie zugelassen oder vielleicht sogar aktiv gefördert hat, gehört sofort suspendiert.
Jedenfalls wurde dieses junge Mädchen jahrelanger intensivster Gewalt ausgesetzt, psychisch und physisch, letzteres zumindest durch Entführung und Einsperren in ein unterirdisches Verlies. Was daran schockiert ist die Dauer, die unmittelbare Nähe zum Alltag einer biederen Gartensiedlung in der Umgebung einer Großstadt und die Planung, die zugleich von einer ungeheuren kriminellen Energie und einer beinahe banalen Bastlermentalität zeugt.
Es liegt ein Fall von extremer Ausprägung vor, aber das Grundsätzliche könnten wir, wenn wir es nur wollten, beinahe jeden Tag bemerken: Junge Mädchen und Frauen, die unter dem Terror eines Partners, eines gegenwärtigen oder ehemaligen, oder eines dominanten Familienpatriarchen stehen; Kinder, die ähnlich unter der Gewalt eines (seltener: einer) Kontrollwahnsinnigen leiden, bis in den Tod. Alle paar Monate liest man von Kindern, die der Vater und die Mutter mit in den Tod nahm, damit sie der andere nicht bekommt; oder von jungen Menschen (meist: Frauen), denen eine archaische Familienmoral ein selbstbestimmtes Leben verbieten will, manchmal bei Todesstrafe.
Selbstverständlich besteht der Unterschied darin, dass der Entführer Nataschas - wie andere Täter - ein fremdes Kind in seine Gewalt brachte. Aber der psychopathische Wille, ein anderes Leben vollkommen zu dominieren, ist derselbe.
Ein Psychotherapeut, der für den Verein „Die Möve“ tätig ist, hat das scheinbar Offenkundige gesagt: Es ist notwendig, auch die Kinder für mögliche Gefahren zu sensibilisieren. Aber auch Zivilcourage seitens der Bevölkerung sei gefragt. Immer mehr Menschen würden heutzutage wegschauen. Bei den Nachbarn des mutmaßlichen Entführers von Natascha könnte sich jetzt ein schlechtes Gewissen einstellen, weil man seit acht Jahren nichts bemerkt haben will.
Das alles hat mit dem „Sexbestie!“-Geschrei, das jetzt anhebt, nichts zu tun. Es geht darum, für den fast normalen Wahnsinn unseres Alltags sensibler zu werden und notfalls einen misstrauischen Blick zu viel als einen zu wenig zu machen. (Hans Rauscher, DER STANDARD, Printausgabe, 26./27.8.2005