Moralische Relativitäten

Ich gebe es zu. Diese verstörende Kriminalfall aus der niederösterreichischen Kleinstadt hat auch auf mich ein paar Auswirkungen. Es fällt mir schwer mich emotional NICHT damit zu beschäftigen. Aber manchmal lasse ich meine Gedanken doch treiben, denn es kommen selten Verhaltensmuster unserer westlichen Gesellschaft so deutlich zum Vorschein wie jetzt.


Was wäre gewesen wenn er damals seine Tochter nicht eingesperrt sondern getötet hätte und nun wäre dies aufgeflogen? Weltweite Schlagzeilen, internationale Kamerateams und hochgradige Emotionalbezeichnungen analog dem "Inzest-Monster" wären mit Sicherheit ausgeblieben. Eine paar Artikeln in den österreichischen Zeitung jetzt und später beim Prozeß. Das wäre es gewesen. An "normale" Mörder sind wir gewöhnt. Insbesondere da die Tat schon 25 Jahre zurück liegen würde und er vielleicht auch noch irgendeine rührselige Geschichte auftischen hätte können, die nach so langer Zeit nicht mehr überprüft gewesen wäre. Das öffentliche Interesse an seiner Person wäre in überschaubaren Grenzen geblieben.

Wäre es daher - gemessen an der Sicht des moralischen Rechtsempfinden eines durchschnittlichen Exemplars vom Typ Homo Austriaticus - das "geringere" Verbrechen gewesen sie damals gleich zu töten anstelle sie jahrzehntelang einzusperren und ihr Kinder zu machen? Wenn ich diese Frage so wie jetzt stelle, werden die meisten sie wohl ohne langes Nachden mit einem entschiedenen "Nein" beantworten. Unsere Reaktion läßt aber etwas anderes vermuten. Das macht mich nachdenklich.
Also sprach david ramirer
am Donnerstag, 8. Mai 2008, 21:30 wie folgt:

aus der perspektive der aktuellen rechtssprechung ist tatsächlich der mord eines menschen das geringere vergehen im vergleich zum jahrzehntelangen freiheitsentzug.
denn: in unserer rechtssprechung ist die schlimmste form der strafe, die vom gesetz für einen menschen vorgesehen ist, der entzug von freiheit.

§ 75 Mord
Wer einen anderen tötet, ist mit Freiheitsstrafe von zehn bis zu zwanzig Jahren oder mit lebenslanger Freiheitsstrafe zu bestrafen.


lebenslange haft bedeutet in österreich laut einem artikel in den salzburger nachrichten im schnitt 21 jahre freiheitsentzug.

im fall des amstettner hauptopfers wurde also vom täter eine schwerere strafe vollzogen, als das strafgesetzbuch für mord vorsieht. (und das nicht nur in bezug auf die dauer, sondern überdies auch noch in hohem grade was die haftbedingungen betrifft, die ausserhalb dieses unfassbaren amstettner kellers in jeder haftanstalt vergleichsweise luxuriös sind.)

daher bedeutet dies, dass ein mord tatsächlicher in unserem moralischen rechtssystem weniger schwer wiegt als die tragödie, die diese frau erfahren musste.

angesichts derartiger arithmetik fällt es schwer, moralisch vertretbar im rahmen zu bleiben...

ein mord ist - vor allem, wenn er im affekt geschieht, unter einfluss von inneren psychischen motivationen, vielleicht auch unter sozialem druck, etc. - tatsächlich eine in gewissem rahmen emotional fassbare angelegenheit, passiert de facto leider des öfteren (das zeigen uns die berichte darüber) und die rechtssprechung kann darauf im laufe der jahrhunderte reagieren, tötungsdelikte in beziehung setzen, strafrahmen je nach form der tötung variieren, usw.
doch wie reagiert das recht auf dinge, die in hunderten jahren einmalig sind? da gibt es keine adäquate reaktion auf die schnelle.

was aber am schwersten wiegt: wie soll auch die brutalste und wüsteste strafe für den täter den opfern irgendetwas von dem geben, was ihnen genommen wurde? ein gestohlenes leben, 24 jahre: das kann auch die vielleicht süßeste rache nicht mehr reparieren.

PeZwo - 8. Mai, 21:44

das ist eine nicht uninteressante Betrachtungsweise.

Ja, stimmt. Trotzdem... wäre es für sie besser gewesen wenn sie von ihrem Vater getötet worden wäre? Ich glaube nicht, denn sonst wäre ihr gesamtes Leben gestohlen, nicht "nur" 24 Jahre.
david ramirer - 8. Mai, 21:46

nein, es wäre nicht besser für sie gewesen, wir sprechen hier aber auch nicht wirklich über die perspektive des opfers (das werden wir niemals können).

aber unsere reaktion darauf wäre im rahmen dessen gewesen, was wir kennen. mord ist alltäglich, diese tat nicht.
PeZwo - 8. Mai, 21:53

ist das wirklich so einmalig 24 Jahre eingesperrt zu sein? Oder sind es nur die Umstände (Vater, Motive Macht und Besitzstreben, Inzest, Kinder, unbemerkt mitten unter uns, usw.), die dies so einmalig machen?
david ramirer - 8. Mai, 22:00

es gibt, soviel ich weiß, mehrere fälle, wo menschen von tätern festgehalten und eingesperrt werden. so langer freiheitsentzug ist aber - soweit ich weiß - sehr sehr selten.
dass in diesem fall inzest dazukommt und sogar kinder in dieser gefangenschaft gezeugt werden, die in einer von der außenwelt völlig abgeschotteten parallelwelt aufwachsen (und sterben!) müssen, macht den fall zu einem monströsen, kaum einordenbaren unikum, das keine parallelen kennt.
es ist definitiv nicht vorstellbar, was in diesem raum unter der erdoberfläche in 24 jahren an leid, hoffnungslosigkeit, schmerz, enge, angst, verzweiflung, ausgeliefertsein, krankheit, niedertracht und boshaftigkeit an der arbeit war. in gewisser hinsicht konzentrieren sich in der imagination dieser ereignisse nahezu alle ängste, die ein mensch haben kann. es gibt wenige horrorfilme, die derartige zustände schildern, weil es zu viel angst produziert - denn auch horrorfilme haben ihre schamgrenze.
diese grenze gab es in diesem keller nicht. das macht das besondere aus.
und hoffentlich das einmalige...
PeZwo - 8. Mai, 22:17

ich dachte an die Situation von jemanden, der unschuldig verurteilt lebenslang im Gefängnis sitzt... und ich meine jetzt nicht das "Lebenslang" von unserem Strafsystem sondern WIRKLICH lebenslang... und ich meine auch kein Gefängnis innerhalb unserer Breiten sondern in einem Land wo man mit Verbrecher und den Menschenrechten nicht besonders zimperlich umgeht.

Da gibt es sicher so manche Menschen mit einem ähnlichen Schicksal, auch wenn sie durch andere Umstände da hineingekommen sind.
david ramirer - 9. Mai, 07:14

solche fälle gibt es wohl, in ländern deren zivilisatorischer grad noch um einiges niederer ist als unserer.
doch die gefangenschaft ist ja in diesem fall nur ein aspekt, einer der härtesten sogar - doch dazu kommen noch all die anderen vergehen, all die anderen moralischen undenkbarkeiten, die diesen fall so unfasslich machen: denn wenn ein häftling in einem gefängnis unschuldig 24 jahre sitzt, dann wird wohl doch eher selten der verurteiler sein vater sein und ihn die ganzen jahre dazu zwingen, ihm kinder zu gebären...
Also sprach turntable
am Freitag, 9. Mai 2008, 00:21 wie folgt:

bei dem was diese frau durchgemacht hat, wäre sie wahrscheinlich besser dran gewesen, wenn er sie mit 18 jahren umgebracht hätte.
"normales leben" hat sie sicher keines mehr. so alt kann sie gar nicht werden - ohne piätetlos sein zu wollen.
mit etwas "glück" ist ihr hr. vater in drei jahren wieder draußen und sie lebt in doppelter angst (oder wieder bei ihm, mich würde nichts wundern).
nebenbei bemerkt gibt es jetzt in der videothek einen "horrorfilm", der sich mit dieser art von freiheitsentzug beschäftigt. beruht angeblich ebenso auf einer wahren begebenheit und heißt "an american crime".
grüße

PeZwo - 9. Mai, 00:31

Nein, ich glaube nicht, dass der Tod besser gewesen wäre. Ein normales Leben .... normal in unserem Sinne (was immer dies auch ist) wird es nicht mehr werden. Stimmt. Aber sie hat dennoch eine Chance.


Und ihr Vater kommt sicher nie wieder frei... alleine durch sein Alter wird er sein Leben wohl im Gefängnis beschließen, so milde kann gar kein Richter sein.
david ramirer - 9. Mai, 07:16

diese sichtweise ist gefährlich: denn das "normale leben" ist ein rahmen, den sehr viele leben nicht erfüllen. ob diese leben dann lebenswert sind oder nicht, kann nur der entscheiden, der es lebt. niemand sonst.
Also sprach flyhigher
am Freitag, 9. Mai 2008, 08:11 wie folgt:

Ich stelle mir selbst die Frage: Wäre ich lieber 24 Jahre eingesperrt und von meinem Vater über diese Zeit hindurch vergewaltigt, oder wäre ich lieber tot. Da brauch ich nicht lange nachzudenken, was mir da lieber wäre.
Ist natürlich aber nicht umzulegen auf das Opfer, sondern nur meine eigene Meinung.
Was die Berichterstattung und die Erschütterung über den Fall betrifft: Gestern hat die SN einen tollen Artikel in der Zeitung gehabt, sinngemäß "muss man alles berichten was wahr ist?"
Und was mich ebenso erschüttert ist die Tatsache, dass in den ATV "Nachrichten" (unter Anführungszeichen, weil sie als solche wohl nicht zu sehen sind) bei der Anmoderation eines Beitrages über Amstetten 4 x das Wort HORRORHAUS und bestimmt genauso oft das Wort MONSTER benutzt wurde.
Mich ekelt vor dieser Art von Berichterstattung. Ehrlich jetzt.
Und ich weiss wieder, warum ich SN lese und ORF Nachrichten schaue.

PeZwo - 9. Mai, 12:32

Wenn man vorher weiß, dass man ab nun 24 Jahre lang eingesperrt sein wird, dann wird dies sicher die Entscheidung beeinflussen.
turntable - 12. Mai, 14:48

bezüglich "normales leben" ist mir natürlich klar, daß dieses als relativ zu betrachten ist und vielleicht niemand in solch schema paßt bzw. wer definiert es.
grüße

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